7. Oktober 2023: Ron Leshems Buch "Feuer" über die "Vernichtung der Besonnenheit" (2024)

Dieses Buch ist trotz seines düsteren Inhalts ein Glücksfall. In „Feuer“ berichtet der israelische Autor Ron Leshem, wie die Hamas ihren mörderischen Überfall plante, wie bestialisch die Terroristen am 7. Oktober vorgingen, als sie fast 1100 Israelis und 71 Ausländer umbrachten und er beleuchtet, welche Verantwortung Ministerpräsident Benjamin Netanjahu trägt. Die Polarisierung der israelischen Innenpolitik schildert der frühere Geheimdienstoffizier und Journalist ebenso prägnant wie die Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts. Für all das genügen ihm 320 Seiten - und die füllt er in einer nüchternen und zugleich empathischen Art.

Der Rowohlt-Verlag gab das Sachbuch in Auftrag, nachdem Leshem Mitte Oktober einen Artikel in der Wochenzeitung Freitag veröffentlicht hatte, der so begann: „Ich teile diese Gedanken als Mitglied einer Familie, die sich mit jeder Faser für die palästinensische Unabhängigkeit und gegen die Vorstellungen der Rechten in Israel engagiert hat.“ Auch „Feuer“ beginnt mit seiner Tante Orit, die von der Hamas erschossen wurde – und zwei Tage zuvor noch als Mitglied der Gruppe „Women Wage Peace“ mit Palästinenserinnen Friedensteppiche ausgebreitet hatte.

Die Hamas setzte auf Erschütterung und Erniedrigung

Im ersten Kapitel schildert Leshem, was seine Familie im Kibbuz Be’eri erlebte. Die Hamas-Terroristen dokumentieren ihren Massenmord auf Video. Sie kastrieren Männer und vergewaltigen Frauen, um den „größtmöglichen Effekt der Erschütterung und Erniedrigung“ auf Israels Gesellschaft zu erzielen. Leshem beschreibt, wie Orit die Verwandten per WhatsApp informiert, dass sich die Terroristen dem Schutzraum nähern. Sein Cousin Itai wird als Geisel verschleppt.

Von den USA aus verfolgt Leshem, wie Israel von den US-Linken als „Land der Siedlerkolonisten“ beschimpft und die Hamas verteidigt wird. Die Fundamentalisten kommen, auch dank russischer und iranischer Desinformation, ihrem Ziel näher, dass sich unter Israelis und Palästinenser „keine Stimmen mehr finden, die Frieden wollen oder daran glauben, es fänden sich auch auf der Gegenseite Partner“. Treffend hält er fest: Der größte Erfolg der Hamas sei „die Vernichtung der Besonnenheit“.

7. Oktober 2023: Ron Leshems Buch "Feuer" über die "Vernichtung der Besonnenheit" (1)

Wie akribisch die Terrororganisation ihren Überraschungsangriff plante, wird viele Leser überraschen. Die Hamas baute Türme, um die an der Grenze gelegenen Kibbuzim auszuspähen und Waffenlager zu identifizieren. 35 000 Kämpfer wurden rekrutiert, die in nachgebauten Kibbuzim das Morden trainierten. All das wurde von der israelischen „Unit 8200“, in der Soldatinnen das Material von Überwachungskameras und Abhöranlagen auswerten, bemerkt und gemeldet. Im Juli 2023 beschrieb eine Unteroffizierin das exakte Szenario des Überfalls und warnte vor einem Angriff, weil sich in den Moscheen im Gazastreifen die Predigten änderten: Dort hieß es, man solle in Israel „maximales Leid verursachen, Grauen verbreiten und die Moral der Juden brechen“.

„Hunderte Millionen Dollar“ aus Katar

Doch Israels Armee glaubte den Frauen nicht – auch weil Netanjahu annahm, die Hamas sei gut für Israel, weil mit einem Terrorregime in Gaza der internationale Druck gering bliebe, ernsthaft mit den Palästinensern zu verhandeln. Hamas-Chef Jahia Sinwar, der sich bis heute im Tunnelsystem unter Gaza versteckt, behandelte der Premier wie ein Partner und gestattete Katar, „Hunderte Millionen Dollar in Koffern an die Hamas“ zu übergeben. Hinzu kam, dass Geheimdienste und Armee viel zu sehr auf technische Aufklärung vertrauten. Die Folge: Am 7. Oktober stürzte „das ganze Kartenhaus israelischer Fehleinschätzung“ in sich zusammen.

Im Buch folgt eine 45-seitige „Chronik“ des 7. Oktobers. Die Hamas hatte „mobile Feldküchen“ dabei und ihre Kommandeure wiesen die Terroristen an, keine Munition zu verschwenden. Auf dem Nova-Festival zündeten die Terroristen Autos an, sodass die Leute, die sich im Kofferraum versteckten, verbrannten. Die Bestatter kamen zu dem Schluss, dass man „mit den Toten auch die Autos begraben muss, damit die gefolterten und mit dem Stahl verschmolzenen Seelen ihren Frieden finden können“. Solche Details sind kaum zu ertragen, aber sie helfen, um zu verstehen, wie traumatisch der 7. Oktober für die Israelis ist und wie der Staat das fundamentalste Versprechen nicht einhielt: den Schutz der eigenen Bürger.

Die Analyse, wieso Netanjahu dafür besondere Verantwortung, ist äußerst nachvollziehbar und hilft, das aktuelle Geschehen in Israel zu verstehen. Um wieder Premier zu werden, koaliert Netanjahu mit den Ultraorthodoxen und rechtsextremen Parteien der Siedlerbewegung. Deren Minister seien „Tiktok-Provokateure, zum Teil vorbestraft, Schlägertypen, gleichzeitig an Gottes-, Minderwertigkeits- und Rachekomplexen leidend“ und kümmerten sich mehr um die Interessen ihrer kleinen Gruppe als um die Sicherheit des Landes. Leshem erinnert an die Justizreform, mit der Netanjahus Regierung sich „uneingeschränkte Macht zuschanzen wollte, ohne Korrektiv und ohne Kontrolle“. Dass Millionen Israelis monatelang protestierten, bekam die Hamas natürlich mit. Den Moment, als Israels Gesellschaft kurz vor dem „Bruderkrieg“ stand und mit sich selbst beschäftigt war, nutzten die Terroristen erbarmungslos aus.

„Bruch mit der eigenen Identität“

Zu den 240 Geiseln, die die Hamas am 7. Oktober verschleppte, gehörte auch Leshems Cousin Itai, der nach 101 Tagen ermordet wurde. Knapp die Hälfte ist bisher nicht zurückgekehrt, etwa 50 sollen noch am Leben sein. Der Autor verbirgt seine Wut nicht, dass Netanjahu einen Deal zur Freilassung der Geiseln immer wieder verschleppt: „Wenn Zivilisten aus ihren Betten entführt werden und ihre Rettung für Israel nicht die höchste Priorität hat, dann ist dies eine moralische Bankrotterklärung und ein Bruch mit der eigenen Identität, mit dem, was wir sein wollen.“

Ron Leshem, der mit seinem Partner und Tochter in Boston lebt, schildert auch die Erlebnisse seiner palästinensischen Freundin Rawa, die im Gazastreifen mit ihrer Familie immer wieder flüchten muss und unter Tränen sagt, noch nie „solche Verzweiflung und Müdigkeit“ empfunden zu haben. Ihm geht es ähnlich, aber das Schreiben bringt ihm Trost. In der Nachbemerkung betont er, dass es ihm unmöglich sei, „ein vollständiges Bild der Tragödie zu zeichnen, die die Einwohner von Gaza“ während Israels Krieg gegen die Hamas durchleiden müssen. „Feuer“ widmet sich vor allem der israelischen Gesellschaft, und die hat Leshem meisterhaft beschrieben.

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